Klimawandel, Digitalisierung und gesellschaftliche Trends bringen neue Risiken mit sich, die Versicherer zunehmend beschäftigen. Der SONAR-Bericht 2025 von Swiss Re beleuchtet Entwicklungen, die Schadenpotenziale verschieben, Haftungsfragen neu definieren und bestehende Geschäftsmodelle herausfordern – von extremer Hitze über digitale Fälschungen bis hin zu gesundheitlichen Folgen des Alltags.

Redakteur/in: Kerstin Quirchtmayr - Veröffentlicht am 13.06.2025
Versicherer sehen sich laut Swiss Re mit einer Erosion des Vertrauens konfrontiert. Nur noch etwa die Hälfte der EU-Verbraucher erwartet, dass Versicherer bei Naturkatastrophen tatsächlich leisten – das zeigt eine Umfrage der europäischen Aufsichtsbehörde EIOPA. Diese Vertrauenslücke kann sich negativ auf den Vertragsabschluss, das Kundenverhalten und das regulatorische Umfeld auswirken.
Zugleich beobachtet Swiss Re eine Zunahme besonders hoher Schadenersatzforderungen – vor allem in den USA. Seit dem Jahr 2020 hat sich dort die Zahl sogenannter „nuclear verdicts“ – Urteile mit über 10Mio US-Dollar Entschädigung – mehr als vervierfacht. Im Jahr 2024 lag die durchschnittliche Zahlung in Fällen gegen Unternehmen bei 65,7Mio. US-Dollar, deutlich mehr als im Vorjahr (41,7 Mio.). Die Folge: In der US-Haftpflichtversicherung beliefen sich die kumulierten Underwriting-Verluste über fünf Jahre hinweg auf rund 43 Mrd. US-Dollar. Swiss Re erwartet, dass ähnliche Dynamiken künftig auch europäische Märkte erfassen könnten.
Digitale Täuschung als betriebliches und versicherungstechnisches Risiko
Ein weiterer zentraler Themenkomplex sind digitale Manipulationen durch sogenannte Deepfakes. Versicherer sehen sich zunehmend mit gefälschten Bildern, Videos oder Dokumenten konfrontiert – etwa bei der Einreichung von Schadensmeldungen. Diese Fälschungen betreffen vor allem kleinere Ansprüche, sind aber in der Breite wachsend. Allein in Großbritannien wurden im Jahr 2024 Versicherungsbetrugsfälle im Umfang von einer Milliarde Pfund aufgedeckt, viele davon mit KI-Hilfsmitteln manipuliert. Zusätzlich warnt Swiss Re vor der Wirkung gezielter Desinformation, etwa durch social bots oder manipulierte Nachrichten. Diese könnten nicht nur das Vertrauen in Versicherer weiter untergraben, sondern auch juristische Verfahren beeinflussen.
Klimatische Belastungen mit direkten Folgen für viele Sparten
Die Zunahme extremer Hitzeereignisse zählt laut Swiss Re zu den derzeit relevantesten Klimarisiken. 2024 war das weltweit wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Zwischen Juni 2023 und April 2024 erlebten über 6 Milliarden Menschen – rund 78% der Weltbevölkerung – mindestens 31 Tage mit extremer Hitze. Weltweit sterben jährlich etwa 489.000 Menschen infolge hoher Temperaturen – mehr als durch Überschwemmungen, Hurrikane und Erdbeben zusammen.
Die Auswirkungen betreffen mehrere Versicherungssparten gleichzeitig: Sachversicherungen müssen mit hitzebedingten Infrastrukturschäden und erhöhtem Risiko von Waldbränden rechnen, Kranken- und Lebensversicherer mit Hitzeschäden bei besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen, und in der Haftpflicht steigt das Risiko von Arbeitgeberklagen bei unzureichenden Schutzmaßnahmen.
Technologische Fortschritte mit Schattenseiten
Auch in der Gesundheitsversorgung bringt technischer Fortschritt neue Herausforderungen. Systeme zur KI-gestützten Diagnostik, robotergestützte Eingriffe oder die Nutzung elektronischer Gesundheitsdaten können helfen, Versorgung zu verbessern – bergen jedoch auch neue Fehlerquellen. Versagen Systeme oder Algorithmen, entstehen Haftungsfragen. Zudem erhöhen Datenschutzverletzungen oder Fehlinterpretationen von Diagnosedaten das Schadenspotenzial. In der Lebens- und Krankenversicherung eröffnet das zwar neue Möglichkeiten für individuelle Tarifierung, gleichzeitig aber auch Unsicherheiten bei der Risikoeinstufung.
Belastung durch Plastik: ein wachsendes Haftungsthema
Die weltweite Kunststoffproduktion soll laut OECD bis 2040 auf 736 Millionen Tonnen steigen – ein Zuwachs von 70% gegenüber 2020. Gleichzeitig gelangen Mikro- und Nanoplastikpartikel immer häufiger in Umwelt, Nahrungsketten und den menschlichen Organismus. Erste Studien weisen sie in Blut, Leber, Nieren und sogar im Gehirn nach. Swiss Re warnt: Sollten Kausalzusammenhänge zwischen Plastikpartikeln und Krankheiten bestätigt werden, drohen umfassende Produkthaftungsklagen gegen Hersteller, Händler und Entsorger. Auch für Lebens- und Krankenversicherungen ergeben sich potenziell steigende Kosten, sollten Langzeitschäden medizinisch anerkannt werden.
Veränderungen in Gesellschaft und Ernährung
Ein weiteres Risikofeld ergibt sich aus dem globalen Anstieg beim Konsum ultra-verarbeiteter Lebensmittel. Diese enthalten häufig zahlreiche Zusatzstoffe und gelten als gesundheitlich problematisch. In den USA wurde 2024 die erste Sammelklage eingereicht, in der großen Lebensmittelherstellern vorgeworfen wird, Kinder gezielt mit potenziell süchtig machenden Produkten angesprochen zu haben. In Europa sind fünf Zusatzstoffe, die in solchen Produkten enthalten sein können, bereits nahezu flächendeckend verboten. Haftungsrisiken entstehen nicht nur für Produkthersteller, sondern auch für Lebens- und Krankenversicherer, wenn Ernährung nachweislich zur Entstehung chronischer Krankheiten beiträgt.
Personalengpässe als versicherungstechnischer Risikofaktor
Ein wachsender Fachkräftemangel betrifft laut Swiss Re vor allem Gesundheits- und Pflegeberufe. In den USA ist fast ein Drittel der praktizierenden Ärzte älter als 65 Jahre. Auch in europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Italien ist ein großer Anteil des medizinischen Personals im höheren Alterssegment tätig. Diese demografische Entwicklung verschärft die Belastung für bestehende Versorgungssysteme. Folgen können Behandlungsfehler, verzögerte Diagnosen oder Überlastung sein – mit unmittelbaren Auswirkungen auf Schadenverläufe in der Haftpflicht-, Kranken- und Lebensversicherung.
Pilzrisiken, Landwirtschaft und Infrastruktur
Zunehmende Temperaturen und der übermäßige Einsatz von Fungiziden fördern die Entstehung multiresistenter Pilzstämme. Weltweit gehen laut Swiss Re jährlich 10 bis 23% der Ernteverluste auf Pilzbefall zurück. Neben Schäden in der Landwirtschaft – die sich in der Agrarversicherung niederschlagen – sind auch Schimmelbildungen in feuchten Gebäuden ein wachsendes Problem für Sachversicherer. In der Krankenversicherung steigt die Aufmerksamkeit für schwer behandelbare Infektionen durch resistente Pilzarten, die sich insbesondere in Katastrophensituationen oder bei vulnerablen Gruppen ausbreiten können.
Neue Dimensionen im Luftraum
Drohnen werden zunehmend vielseitig eingesetzt – in der Landwirtschaft, in der Logistik, bei Infrastrukturinspektionen oder im militärischen Bereich. Die Zahl registrierter Drohnen allein in den USA lag 2023 bei über 2 Millionen. Damit einher gehen neue Risiken, etwa durch technische Ausfälle, Datenschutzverletzungen oder sicherheitsrelevante Softwareeingriffe. Auch die Nutzung von Drohnen durch Versicherer selbst – etwa zur Schadenbeurteilung – wirft Fragen zum Datenschutz und zur regulatorischen Einordnung auf. Risiken für Sach-, Haftpflicht- und Spezialversicherungen könnten mittelfristig an Bedeutung gewinnen.
Veränderungen erkennen, Auswirkungen beobachten
Die untersuchten Risiken unterscheiden sich in Reifegrad, Geschwindigkeit und versicherungstechnischer Durchschlagskraft. Einige – wie extreme Hitze, Deepfakes oder soziale Inflation – zeigen bereits spürbare Auswirkungen im operativen Versicherungsgeschäft. Andere wie Mikroplastik oder Ernährungstrends entfalten ihr volles Schadenspotenzial möglicherweise erst langfristig. Der Bericht weist darauf hin, dass viele dieser Risiken ineinandergreifen oder sich gegenseitig verstärken können. Die laufende Beobachtung solcher Entwicklungen wird für Versicherer zur zentralen Voraussetzung, um auf veränderte Risikolagen reagieren zu können.
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