Die Versicherbarkeit technischer und systemischer Risiken im Industrie- und Gewerbegeschäft ist unter Druck geraten. VÖVM-Präsident Mag. Dr. Klaus Koban und Dr. Hans-Georg Jenssen, Rechtsanwalt und früherer Vorstand des BDVM, erklären, wie sich die Risikolandschaft verändert hat, wo die größten Hürden liegen – und welche Konsequenzen sich für Versicherungsmakler und Kunden daraus ergeben.

Redakteur/in: Kerstin Quirchtmayr - Veröffentlicht am 03.10.2025

VÖVM-Präsident Mag. Dr. Klaus Koban
Die Risikolandschaft im Gewerbe- und Industriegeschäft ist heute deutlich komplexer als noch vor wenigen Jahren. Klassische Versicherungslösungen stoßen dabei zunehmend an ihre Grenzen. „Multikrisen wie Pandemie, Krieg, Inflation, Lieferkettenprobleme, Cyberangriffe und Klimawandel verstärken sich gegenseitig. Viele dieser Risiken lassen sich kaum mehr mit klassischen Versicherungsmechanismen auffangen, weil sie systemisch wirken und ganze Kollektive gleichzeitig treffen“, erklärt Dr. Klaus Koban. „Die Folge: Grenzen der Versicherbarkeit verschieben sich. Unternehmen müssen stärker auf Prävention und alternative Strategien setzen, während wir Makler gefordert sind, Kunden offen über diese Grenzen aufzuklären und kreative Lösungen jenseits der Standardpolizze zu entwickeln.“
Auch Dr. Hans-Georg Jenssen beobachtet eine massive Veränderung der Absicherungssituation: „Aufgrund der zunehmenden Komplexität der Risiken – etwa ESG, Naturkatastrophen oder geopolitische Spannungen – hat sich die Bereitschaft der Versicherer, bestimmte Risiken zu übernehmen, stark geändert. Unsere jüngste Mitgliederbefragung hat sogar einen Deckungsnotstand in der Industrieversicherung offengelegt, mit gravierenden Kapazitätsengpässen.“
Rückversicherung treibt den harten Markt

Dr. Hans-Georg Jenssen, Rechtsanwalt und früherer Vorstand des BDVM
Ein zentrales Element der aktuellen Entwicklung ist die harte Zeichnungspolitik, die maßgeblich durch Rückversicherer geprägt wird. „Wir befinden uns in einem ausgeprägten harten Markt, geprägt von steigenden Prämien und strengeren Bedingungen. Rückversicherer geben dabei klar den Takt vor, da sie selbst von hohen Katastrophenschäden und Inflation betroffen sind“, so Koban. „Sie reduzieren Kapazitäten, erhöhen Preise und setzen neue Ausschlüsse – etwa jüngst bei PFAS-Chemikalien. Erstversicherer müssen diese Vorgaben weitergeben und haben wenig Spielraum. Nur bei sehr guter Risikoqualität lassen sich im Einzelfall bessere Konditionen erzielen.“
Jenssen konkretisiert, wo die Engpässe am stärksten spürbar sind: „Besonders betroffen sind versicherungstechnische Risiken wie Feuer, Explosion oder Naturkatastrophen. Branchen wie Holzverarbeitung, Recycling, Metallverarbeitung sowie die Kunststoff- und Lebensmittelindustrie haben derzeit kaum Zugang zu ausreichendem Versicherungsschutz. In dieser Situation wird Prävention zur wichtigsten Stellschraube, um Risiken überhaupt noch platzieren zu können.“
Anforderungen an Makler steigen deutlich
Für Makler bringt diese Entwicklung enorme Herausforderungen mit sich – sowohl im Umgang mit Versicherern als auch mit Kunden. „Die größte Herausforderung ist die Kapazitätsknappheit: Manche Risiken, etwa Feuer oder Naturkatastrophen, sind nur noch mit mehreren Versicherern oder gar nicht mehr deckbar“, erklärt Koban. „Hinzu kommen steigende Informationspflichten – Versicherer verlangen detaillierte Daten, Audits und Nachweise, insbesondere im Cyberbereich. Viele Mittelständler sind darauf nicht vorbereitet. Makler müssen diese Prozesse begleiten und zugleich schwierige Gespräche mit Kunden führen, deren Verträge trotz schadenfreier Historie gekündigt oder verteuert werden.“
Jenssen betont die damit verbundenen strukturellen Defizite: „Makler kritisieren zu Recht, dass Versicherer oft nicht über die nötige Fachkompetenz und/oder Entscheidungsfreiheit verfügen, um individuelle Lösungen zu finden. Die Kommunikation ist mühsam, der Spielraum für flexible Konzepte begrenzt – das erschwert unsere Arbeit erheblich.“
Chancen durch Prävention und neue Konzepte
Trotz der angespannten Marktsituation lassen sich auch heute tragfähige Lösungen entwickeln – mit einem klaren Fokus auf Prävention und Innovation. „Prävention ist heute fast so wichtig wie die Polizze selbst – wer Brandschutz, IT-Sicherheit oder Notfallpläne nachweist, hat bessere Chancen auf Versicherungsschutz“, so Koban. „Individuelle Risikoanalysen helfen, passende Bausteine zu kombinieren – klassische Polizzen, Selbstbehalte oder auch parametrische Deckungen. Eigenbeteiligung und alternative Modelle wie Captives oder Poollösungen gewinnen an Bedeutung. Mit solchen Hybridlösungen lassen sich auch in engen Märkten tragfähige Konzepte entwickeln.“
Auch Jenssen sieht technische Innovation als wichtigen Hebel: „Die Funkstiftung hat ein Tool gefördert, das Brandgefahren in Recyclinganlagen besser erkennt. Solche Instrumente entschärfen die Risikosituation messbar und machen eine Deckung überhaupt erst möglich. Entscheidend ist, dass Makler, Kunden und Versicherer gemeinsam an der Risikoreduktion arbeiten.“
Grenzen akzeptieren, Lösungen fordern
Die Grenzen der Versicherbarkeit lassen sich aus Sicht beider Experten nicht abschließend definieren – doch sie sind real und müssen thematisiert werden. „Die Grenzen verlaufen dort, wo Risiken systemisch und unkalkulierbar sind – etwa Krieg, Pandemien, großflächige Blackouts oder extreme Cyberangriffe“, erläutert Koban. „Auch Klimarisiken können in manchen Regionen die Versicherbarkeit sprengen. Entscheidend ist, Kunden diese Grenzen klar zu kommunizieren. Ehrlichkeit schafft hier Vertrauen – nichts wäre schlimmer, als im Schadenfall erklären zu müssen, dass etwas gar nicht versichert war.“
Aus Sicht von Jenssen hängt Versicherbarkeit weniger von klaren technischen Grenzen ab, sondern vielmehr vom kollektiven Risikoausgleich innerhalb der Gesellschaft: „Ob es auf Dauer klare Grenzen der Versicherbarkeit gibt, wage ich zu bezweifeln. Vielmehr hängt es davon ab, wie viele sich gegen ein Risiko versichern. Nach der Flut im Ahrtal wäre eine Deckung für Einzelne kaum möglich – aber eine Pflichtversicherung für alle könnte das ändern. Dieses Thema wird nicht nur in Deutschland, sondern europaweit diskutiert.“
Zusammenarbeit als Schlüssel
Ein gemeinsames Verständnis von Risiken und Rollen ist entscheidend, um auch künftig Versicherungsschutz zu ermöglichen. „Makler werden mehr zu Risikoberatern und Datenmanagern, Versicherer zu Lösungspartnern. Beide Seiten müssen frühzeitig zusammenarbeiten, Risiken gemeinsam analysieren und Deckungskonzepte entwickeln“, betont Koban. „Nur so können komplexe Risiken überhaupt noch abgesichert werden.“
Jenssen sieht die klassische Rollenverteilung nicht in Frage gestellt, aber stärker gefordert: „Der Makler bleibt Sachwalter des Kunden – aber in Zeiten zunehmender Komplexität muss er tiefer in die Risikoanalyse einsteigen und intensiver mit dem Versicherer kommunizieren. Das setzt Kompetenz auf beiden Seiten voraus – und genau da liegt angesichts des Fachkräftemangels eine der größten Herausforderungen.“
Mag. Dr. Klaus Koban spricht gemeinsam mit Tim Lamm, Geschäftsführer der WECOYA UNDERWRITING GmbH, zum Thema "Assekuradeure im Vormarsch: Was Vermittler in Österreich wissen müssen - Rechtlicher Rahmen, Marktentwicklung und Erfahrungen aus Deutschland" beim AssCompact Trendtag am 9. Oktober in der Pyramide Wien/Vösendorf.
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