Entscheidungen zur groben Fahrlässigkeit sind selten geworden, weil dieser zur Leistungsfreiheit des Versicherers führende Tatbestand oft mitversichert wird. In welch unsicheren gerichtlichen Gefilden man sich befinden kann, zeigt die Entscheidung OGH 7 Ob 142/22s vom 23.11.2022.
Artikel von:
Dr. Wolfgang Reisinger
Lektor WU Wien und der Donau-Universität Krems
Der Versicherungsnehmer (VN) stellte sein Fahrzeug auf einem Abstellplatz vor einem Fischteich ab und verließ es, ohne den ersten Gang ordnungsgemäß einzulegen und ohne die Parkbremse zu aktivieren. Als er das Fahrzeug verließ, war keine Bewegung erkennbar. Er ließ das Fahrzeug für einen Zeitraum von ein paar Minuten unbeaufsichtigt. Währenddessen löste sich der erste Gang und das Fahrzeug rollte in den Teich. Bei dem bestehenden Gefälle von 3% bis 6% hätte sowohl die elektronische Parkbremse als auch das ordnungsgemäße Einlegen des ersten Ganges für sich allein ein Wegrollen des Fahrzeuges verhindert. Der Versicherer lehnte die Deckung wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls ab.
Entscheidungsgründe
Gemäß § 23 Abs. 5 StVO ist der Lenker eines Kfz verpflichtet, dieses vor dem Verlassen so zu sichern, dass es nicht abrollen kann. Welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um das Abrollen eines Fahrzeuges zu verhindern, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Selbst der Verstoß gegen Schutzgesetze wie etwa die StVO bedeutet als solcher nicht schon grobe Fahrlässigkeit, sondern es muss der ohne Zweifel objektiv besonders schwere Verstoß auch subjektiv schwerstens vorwerfbar sein. Im vorliegenden Fall ist die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, es liege kein grob fahrlässiges Verhalten des Klägers vor, nicht korrekturbedürftig, weil bei dem hier bestehenden geringen Gefälle schon das ordnungsgemäße Einlegen des ersten Ganges ohne zusätzliche Aktivierung der elektronischen Parkbremse ein Wegrollen verhindert hätte und für den Kläger nichts darauf hindeutete, dass er den ersten Gang nichts ordnungsgemäß eingelegt hatte. Mangels Erkennbarkeit dieses Umstandes kann vom Kläger aber auch nicht eine Kontrolle durch nochmaliges Einlegen des Ganges verlangt werden.
Kommentar
Bei Fragen der groben Fahrlässigkeit sind die Gerichte nicht zu beneiden, weil es in Österreich – anders als in Deutschland – keine abgestufte Leistungsfreiheit gibt, sondern das Alles-oder-Nichts-Prinzip herrscht. Das LG Salzburg als erste Instanz war der Ansicht, dass dem VN grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist – also „Nichts“. Das OLG Linz als Berufungsgericht war gegenteiliger Meinung – also „Alles“. Der OGH hat sich wie fast immer in dieser Frage herausgehalten, die an sich zugelassene Revision der Versicherung zurückgewiesen und das „Alles“ (immerhin 18.000 Euro) bestätigt. Diese Schwierigkeiten kann man sich ersparen, wenn man – wie heute eigentlich weitgehend üblich – die grobe Fahrlässigkeit in der Kaskoversicherung mitversichert. Der OGH erwähnt zu Recht den Stehsatz, „dass grobe Fahrlässigkeit dann gegeben ist, wenn schon einfachste, naheliegende Überlegungen nicht angestellt und Maßnahmen nicht ergriffen werden, die jedermann einleuchten müssen“. So gesehen hätte man bei einem Gefälle von 3% bis 6% eher eine gegenteilige Entscheidung erwartet, weil man dabei mit einem Abrollen eines nicht gesicherten Kfz eigentlich rechnen muss.
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